Informationen über Bio-Lebensmittel und Naturkost

01.06.2002: Nitrofen in Bio-Lebensmitteln

Weitere Infos im Archiv
Stellungnahme der Gemüsekiste

Was ist passiert?

Die Agrarverarbeitungsgenossenschaft AGV Stegelitz-Flieth (Brandenburg) lieferte Bio-Getreide an die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) in Neu-Brandenburg. Diese lagerten das Getreide in einer Lagerhalle, die sie zu diesem Zweck angemietet hatten. Was sie (wie sie sagen) nicht wussten: Diese Halle wurde zu DDR-Zeiten als Lager für Pflanzenschutzmittel, unter anderem auch Nitrofen, benutzt. Offensichtlich ist niemals jemand auf die Idee gekommen, die Halle auf Rückstände zu untersuchen. So wurde also aus dieser Halle Futtergetreide an die niedersächsische GS agri geliefert.

Die zuerst verdächtigte AGV Stegelitz ist entlastet. Mehrere Untersuchungen des Potsdamer Agrarministeriums haben nachgewiesen (28.05.2002): Sie waren es nicht. Es wurden keinerlei Rückstände von Nitrofen gefunden. Es ist klar: Der Weizen war, als er den Erzeuger-Betrieb verliess, sauber und unbelastet.

Aufgefallen ist das Nitrofen Ende 2001 der hausinternen Qualitätssicherung von Hipp. Sie sandten die belastete Lieferung zurück, schlugen Alarm, informierten auch den Hersteller des Futtermittels für die Puten, die Oldenburgische Genossenschaft "GS agri". Soweit gut und richtig. Ein Punkt für Hipp.

Was Hipp natürlich auch nicht wusste: Woher und wie kam das Zeugs denn in die betroffenen Chargen? Also gingen die Recherchen die Warenflusskette zurück. Dabei zeigte sich das nächste Problem: Laut Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung ist Nitrofen in Westdeutschland seit 1981 und im Osten seit 1990 verboten. Deshalb, so Naturland, habe es Schwierigkeiten gegeben, genügend geeignete Labors zu finden, die eine passende Analyse-Technik noch beherrschten. Die Untersuchungen dauerten bis Anfang April 2002.

Bei hausinternen Kontrollen des Futtermittelherstellers GS agri stellten die Chemiker zwischen November 2001 und Mai 2002 in insgesamt 31 Fällen Nitrofen fest. Ob, wann und wen GS agri darüber informierte, ist noch nicht so ganz klar. GS agri lieferte einerseits weiterhin Futtermittel aus, andererseits riefen sie aber Ware von ihren Kunden zurück.

Die 300 to Bio-Weizen wurden, zu mehreren Tausend Tonnen Futtermittel verarbeitet, an ca. 120 Bio-Betriebe geliefert. Irgendwann im Mai endlich informierten sich alle Zuständigen und Betroffenen munter gegenseitig. Die Anbauverbände warnten ihre Mitglieder. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, hatte aber bis 01.06.2002 nichts öffentlich Wahrnehmbares gegen GS agri unternommen.

Mangels Fakten: Streit um Informationsfluss

GS agri lieferte sich einen heftigen Schlagabtausch per Pressemitteilung mit dem Niedersächsischen Landwirtschaftsministerium. Die zuständige Öko-Kontrollstelle habe nach erneuter Prüfung bestätigt, sie hätten jederzeit die Auflagen der EG-Bio-Verordnung erfüllt.

Am 30.05.2002 erklärt das brandenburgische Landwirtschaftministerium, es habe den GS agri-Betriebsteil, der Bio-Futtermittel herstellt, geschlossen, und strebe eine Schliessung des gesamten Betriebes an. GS agri erklärt am gleichen Tag, man habe keine schriftliche Verfügung erhalten. Eine weitere Überprüfung von Proben, die bei Anlieferung des Getreides gezogen wurden, zeigte, dass das Getreide belastet war, bevor es bei GS agri eintraf.

Weil kein Mensch etwas Genaues wusste, wurde erstmal darum gestritten, wer wann wen informiert hat oder auch nicht. Da hat die Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach Anfang des Jahres in einem privaten Auftrag Nitrofen in Proben eines Putenmastbetriebes nachgewiesen, die ergänzende Weizenprobe war aber negativ, also sei man von einem "lokalen Fall" ausgegangen und habe die Messung nicht an das Verbaucherschutzministerium gemeldet.

Das Berliner Verbraucherschutzministerium wurde am 21. Mai 2002 von Bioland informiert und leitete nach Hannover weiter. Als Naturland wiederum zuständige Stellen in Hannover informieren wollte, hiess es dort laut Naturland, der Vorgang sei bekannt, man könne aber derzeit noch nichts dazu sagen. Ach so.

Hipp wiederum wehrte sich heftig gegen den Vorwurf, die Funde von Ende letzten Jahres verschwiegen zu haben. Hier sekundieren die Anbauverbände. Schliesslich sei man erst durch Hipp auf das Problem aufmerksam gemacht worden. Hipp bestritt heftigst, bereits in Verkehr gebrachte Ware zurückgerufen zu haben. Man habe das Nitrofen vor Verwendung der belasteten Zutaten gefunden.

Hat Naturland zu lange geschwiegen?

Was der Sache einen sehr merkwürdigen Beigeschmack verleiht, ist die Tatsache, dass GS agri anscheinend ihren Verarbeitungs-Vertragspartner Naturland nicht schon bei den ersten Funden informierte. Auch Naturland kann sich nicht ohne weiteres herausreden. Einerseits werden sie nicht müde, zu betonen, dass Verbandsware eine höhere Qualität als "nur"-Eg-Bio-Produkte, andererseits führt ihre Warenzeichen-Vermarktungsgesellschaft "Naturlandzeichen GmbH" GS agri (Mischbetrieb nach EG-Bio-Verordnung) als Vertragspartner auf.

Mangels anderer Fakten stürzten sich die Medien auf diesen kommunikationstechnischen Knoten. Das Futter lieferten die Politiker. Es ist schliesslich Wahlkampf, und da bringt es immer etwas, auf die Bio-Branche einzudreschen. Das ist eine nähere Betrachtung wert:

Den Bio-Verbänden wurde vorgeworfen, zu spät über die Nitrofen-Belastung informiert zu haben. Wie bitte? Es war Bioland, die am 21. Mai bei Künast vorstellig wurden. In einer Pressemitteilung von Naturland wurde genau aufgedröselt, wer wann mit wem sprach. Ähnlich äusserte sich Naturland-Geschäftsführer Gerald Herrman in einem Interview mit WDR5.

Die Darstellung der Fakten ist zwar schlüssig, allerdings überzeugt seine Haltung nicht so ganz. Vermutlich hat Naturland völlig legal gehandelt. Ob ihre Informationspolitik mit der üblichen Praxis der Bio-Branche in Einklang zu bringen ist, ist fraglich.

Auf jeden Fall waren etliche Behörden früher informiert, und reagierten nicht. Naturland ging am 23. Mai an die Öffentlichkeit. Es wird sich noch herausstellen, ob und wieviel früher Naturland hätte Alarm schlagen müssen. Bioland-Bundesgeschäftsführer Dosch dazu in der Berliner Zeitung: "Ich bin ratlos, warum Naturland im April davon erfuhr und nichts unternahm. Wir von Bioland sind schockiert und stinksauer."
Nachtrag 2005-08-26: Inzwischen wird allgemein davon ausgegangen, dass Bioland das Verbrauchschutzministerium in Berlin informierte, weil Naturland nicht dazu zu bringen war, selbst auf die Behörden einzuwirken bzw. an die Öffentlichkeit zu gehen.

Niedersächsischer Landwirtschaftsminister gibt sich wahlkämpferisch

Bartels sprach von "Schludrigkeit" im Kontrollwesen der Bio-Branche. Er hat wohl noch nicht zur Kenntnis genommen, dass genau dieses Kontrollwesen das Nitrofen nachgewiesen hat. Hipp fand es, informierte, und die Suche nach dem Verursacher lief an. Künast'sche Beamte wurden von Bioland informiert, was jetzt zu "einem vagen Hinweis" heruntergespielt wird. Die staatlichen Untersuchungsstellen fanden nichts oder nahmen es nicht ernst. Bartels eigene auch nicht. Wer schlampt hier bitte...?

Dann (28.05.2002) wehrte er sich gegen den Vorwurf, es gäbe Versäumnisse bei den Kontrollbehörden seines Landes. Die könnten Nitrofen gar nicht finden, weil Tests darauf nicht mehr vorgesehen seien. Ach was? In Labors der Bio-Branche sind sie vorgesehen. Und die haben es auch gefunden.

Weiter behauptete er, es sei "völlig unglaubwürdig", dass die betroffenen Öko-Betriebe nichts von der Nitrofen-Verseuchung gewusst hätten. Bitte: Wie sollten sie denn? Kann man Nitrofen im Hühnerfutter riechen? Sehen? Glaubt der Herr Minister, die konventionellen Kollegen wüssten genau, was sie tun?

Man stelle sich vor, im Kühlschrank das Ministers fände sich belastetes Putenfleisch. Wie lange bräuchten er und seine Beamten wohl, um die Belastung rückwärts durch die Handelskette, mehrfach quer durch die Bundesländer und Zuständigkeiten, bis zum richtigen Erzeuger der richtigen Zutat zu finden? Und käme er auf Anhieb auf die Idee, zuerst in Hühnereiern nachzugucken? Oder in brandenburgischen Lagerhallen?

Es ist der Vorteil der Bio-Branche gegenüber der konventionellen Lebensmittelindustrie, dass der Warenfluss jederzeit und überall dokumentiert wird. Bio-Lebensmittel und ihre Zutaten können jederzeit bis zum Erzeuger zurückverfolgt werden.

Später (30.05.2002) formulierte Minister Bartels deutlich vorsichtiger und erheblich sachkundiger. So zum Beispiel in einem Interview mit NDR4

Auch nett: Die Unternehmensgruppe Hühnerhof Heidegold (den Namen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!) behauptete (27.05.2002) auf ihrem Newsletter:

"Die aktuellen Nitrofen-Funde beschränken sich auf Bio-Eier. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, das es bei Eiprodukten aus Freiland-, Boden oder konventioneller Legehennenhaltung entsprechende Verunreinigungen gibt."

Diese Behauptung ist an Naivität und/oder Frechheit kaum zu überbieten. Glaubt Heidegold wirklich, ausgerechnet Bio-Bauern würden als einzige ein illegales, seit 20 Jahren verbotenes Mittel verwenden, ihre konventionellen Kollegen aber nicht?

Nochmals: Im konventionellen Bereich wurde seit ca. 1990 kein Nitrofen mehr gesucht, in der Bio-Branche schon. Wer mag glauben, dass kein derartig belastetes konventionelles Getreide aus dieser oder anderen Lagerhallen in Verkehr gebracht wurde?

Etliche andere Ungenauigkeiten und Halbwahrheiten widerlegt Naturland in einer Richtigstellung.

Es ist einfach dummes Zeug, der Bio-Branche Verschleierungstaktik vorzuwerfen. Man beachte die Seiten der Stiftung Ökologie und Landbau mit einer hervorragenden, Linkliste zum Thema Nitrofen (2005-08-26: nicht mehr im Netz). Ich möchte mal ein gleichwertiges Verhalten bei einem Skandal in der konventionellen Lebensmittel-Industrie erleben. Gemerkt haben es aber die vielgeschmähten Ökos, nicht die konventionellen Industrie-Labors.

Dass irgendjemand (GS agri? Naturland? Die Öko-Kontrollstellen?) seine Informationen ca. vier Wochen länger zurückhielt, als im Sinne einer umfassenden Information nachvollziehbar ist, ist sicher. Das ist und bleibt eine unentschuldbare Schweinerei, selbst wenn alle Beteiligten formal richtig gehandelt haben sollten.

Es ist immer wieder dasselbe: Was bei der chemisch-industriellen Lebensmittel-Herstellung der Normalfall und leider oft auch völlig legal ist, darüber regt sich kein Mensch auf. Wenn in der Bio-Branche nach einer Fehlerquelle gesucht wird, heisst es prompt, das Kontrollsystem habe versagt. Und das stimmt in diesem Fall ganz sicher nicht. Wäre GS agri ein rein konventioneller Lieferant, wer weiss, ob und wann und wer überhaupt etwas gemerkt hätte. Wenn die staatlichen Untersuchungsstellen seit ca. 12 Jahren kein Nitrofen mehr suchen, hätten sie vermutlich in den nächsten Jahren auch keins gefunden.


Weiterführende Informationen in unserem Archiv

Informationen der Bio-Verbände

Informationen der Behörden

Stellungnahmen von Erzeugern, Verarbeitern und Händlern

Stellungnahmen der Verbraucherverbände etc.

Beiträge der Medien


Weitere Links zum Thema Nitrofen und Bio-Kontroll-Systeme

Dass weder Behörden, noch Medien, noch Politik in der Lage sind, Informationen über wenige Jahre online zu lassen, ist peinlich! Nur die Verbraucher- und Umweltverbände kriegen das hin. Lob!